Ein Workshop mit Stefan Kühl im Rahmen der Ausbildung zum Organisationsentwickler inspirierte mich zu einem Blick auf theoretische Hintergründe zu Unternehmenskultur und Intervention, der erklärt, warum viele Veränderungsvorhaben auf der Strecke bleiben. Wir starten mit einem kleinen Beispiel aus der Praxis.
Sichtweise 1: Ach, wo wäre denn die Welt, wenn nicht jeder nur das macht, was ihm gefällt?
Montag, halb neun in Deutschland. Die Mails vom Freitag und Wochenende durchlesen und grob aussortieren. Hilfreiches und Dinge, die wir schnell erledigen können, werden abgearbeitet. Andere Mails kommen zur Ablage für später. Und dann bleibt diese eine Mail übrig, auf die wir mit einem Gefühl der Hilflosigkeit und einem Déjà-vu starren.
Da scheint wieder eine dieser hoch aufgehängten Arbeitsgruppen eine Wochenendschicht eingelegt zu haben. Unter einem neumodisch klingenden Ziel (sehr beliebt sind dabei z.B. Begriffe wie Digitalisierung und Agilität) soll sich etwas ändern, ohne dass genau beschrieben wird, was denn eigentlich bisher nicht gut war. Unsere Erfolge der letzten Jahre gelten plötzlich als falsch, externe Berater wissen genau, wie wir arbeiten sollten.
Wie immer wird auch dieser neueste Trend an uns vorbei gehen, sich nicht etablieren, wir arbeiten weiter wie bisher. Die Abteilung heißt danach vielleicht anders, oder es gibt eine neue Chefin. Auf unsere wirkliche Arbeit hat sich so etwas noch nie durchgeschlagen. Geredet hat mit uns ja auch noch nie jemand.
Sichtweise 2: Perspektivenwechsel
Die Unternehmensleitung und der neue Berater, von dem eigentlich sinnvolle Impulse und Ideen kommen, sind ratlos: Es tut sich nichts. Zum wiederholten Male!
Dabei ist das Problem doch für jeden offensichtlich: Mit dem zunehmenden Wettbewerb und immer kürzer werdenden Innovationszyklen kämpft die Führungsetage bereits seit Jahren um die letzten Marktanteile. So gut es geht, halten sie die schlimmsten Sorgen und Ängste noch von den Mitarbeitern ab, und versuchen, über neue Strategieprogramme Einfluss auf den Erfolg des Unternehmens zu nehmen.
Auf der Homepage des Unternehmens finden sich die modernsten Schlagworte. Das Unternehmen wird gut dargestellt. Doch ungeachtet aller neuen Regeln, die beinahe so detailliert sind, dass die Hand der Mitarbeiter schrittweise durch alle Prozesse durchgeführt wird, handelt die Belegschaft noch wie vor 10 Jahren.
“Die Kultur verspeist die Strategie zum Frühstück” (Peter Drucker)
Diese beiden einführenden Sichtweisen sind ein gutes Beispiel dafür, wie unterschiedlich Standpunkte sein können. Aber auch dafür, wie prägend Kultur für Organisationen ist. Sie wird bei Veränderungsvorhaben zu oft übersehen und führt deshalb oft zu einem Scheitern dieser Vorhaben.
Organisationskultur ist schwer zu greifen, da sie nicht formal beschrieben ist, sondern sich an den offiziellen Vorgaben vorbei im Verborgenen bildet. Wie schon Peter Drucker in seinem Zitat anmerkt, ist sie jedoch sehr mächtig, und viele Veränderungsvorhaben haben sich an ihr die Zähne ausgebissen.
Was ist Kultur, wie grenzt sie sich ab und wie lässt sie sich verändern?
Bei der Betrachtung hilft ein Modell von Stefan Kühl, demzufolge sich eine Organisation wie folgt betrachten lässt:
Schauseite | Veröffentlichungen, Homepage, Berichte Häufig der Wunsch, wie das Unternehmen gerne gesehen würde |
Formelle Seite | Arbeitsanleitungen, Verfahrensanweisungen, Teams Niedergeschriebene Vorschriften, die betrachtbar sind und damit häufig die IST-Basis für Veränderungen bilden. Man glaubt, so und nicht anders wird gearbeitet. |
Informelle Seite (Kultur) | Kaffeeküchengespräche, “Das haben wir schon immer so gemacht”, Cliquen Häufig Ausgleichshandlungen für Misstände auf der formellen Seite. Das, was passiert, wenn man nicht hinschaut. Häufig das wirkmächtige IST (das Unbewusste, der untere Teil des Eisbergs), welches bei Veränderungsvorhaben nicht als Ausgangsposition verwendet wird. |
Stefan Kühl erweitert diese Sicht noch auf eine 9-Felder-Matrix und gibt damit eine Heuristik zur Erfassung und Beobachtung von Dynamiken in einer Organisation: Die Entscheidungsprämissen – stabile Erwartungsmuster, die sich beobachten und hinsichtlich Interventionsmöglichkeiten analysieren lassen (Beispiel siehe weiter unten).
Die Motivation für das Ausfüllen dieser Matrix liegt darin, eine Veränderung in der Selbstbeobachtung zu erzeugen, so dass die selbstproduzierte Stagnation (das sich konstant halten) der Organisation nach Aufdeckung von Dysfunktionalitäten nicht mehr aufrechterhalten werden wird. Wer macht schon weiter wie gehabt, wenn erkannt wurde, dass es keinen Sinn macht.
Der geführte Vorgang dieser Selbstbeobachtung ist die wirkungsvollste veränderungswirksame Intervention, also eine Maßnahme oder Erkenntnis, die in der Organisation zu Veränderung führen soll.
Die Methodik schlägt ein Herangehen an die Analyse über folgende Fragen vor:
- Um welches Vorhaben, welches Thema geht es?
- Wer sind die beteiligten Akteure?
- Wie ist es formal geregelt?
- Wie wird es informal gelebt?
- Wie wird formal und informal sanktioniert?
- Welche Funktion hat die Informalität?
- Welche Rolle hat dabei die Schauseite?
Und warum tut sich jetzt nichts in unserer Organisation?
Wenden wir die Methodik auf das Eingangsbeispiel an, so könnte dies folgendermaßen aussehen:
Kommunikations- | Programme, Regeln, Rituale | Personal, Rollen | |
Schauseite | Top Homepage mit allen wesentlichen, zeitgemäßen Schlagwörtern (Digitalisierung, etc.) | Klar benannte, unverrückbare Unternehmenswerte | – |
Formelle Seite | Regelmeetings mit gleichbleibender Standardagenda, auf die es die neuen Themen nicht geschafft haben | Aufgesetztes Veränderungsvorhaben, direkt unter dem Vorstand Ausgeprägtes Regelwerk | Zentralistischer Führungsstil mit command and control aus großem Abstand, ohne Erdung |
Informelle Seite | Die Top Know How Träger treffen sich wöchentlich beim Golf ohne Führungsmannschaft | Verärgerung über die “weltfremden” Steuerungssignale machen sich in der Kaffeeküche Luft | Wer etwas erreichen will passt den Chef in der Mittagspause ab, denn der kann nicht nein sagen im direkten Kontakt |
Aus den vorliegenden Beobachtungen ergibt sich dann eine mögliche Analyse:
- Die Einsicht in die Notwendigkeit einer Änderung hat die Vorstandsebene nie verlassen.
- Die Belegschaft trifft sich, da die Regelmeetings zu starr sind, in informalen Aktivitäten außerhalb der Arbeitszeit. Dort werden, unbemerkt von der Führungsmannschaft, die Entscheidungen auf technischer Ebene getroffen und damit die wirklichen Tatsachen gelebt.
- Diese informelle Bearbeitung ist für die Organisation sinnvoll, da es wegen einem command-and-control Führungsstil nicht möglich ist, Einfluss auf die formellen Meetings zu nehmen und die Belegschaft dies nach vielen Jahren auch einfach aufgegeben hat.
- Dieses Verhalten wird einerseits geduldet: Da die Führungsetage sich machtlos fühlt, ist sie fast dankbar darum, dass es doch irgendwie weitergeht, wenn auch an ihnen vorbei.
- Andererseits wird aber vom Chef in Mitarbeitergesprächen sanktioniert, wo das Fehlverhalten aus seiner Sicht angesprochen aber nicht ausdiskutiert wird. Guter Einsatz lohnt sich gefühlt nicht.
- Dagegen steht, dass der Chef sich in informellen Gesprächen selbst nicht an Regeln hält und viele widersprüchliche Zusagen macht, um direkten Konflikten aus dem Weg zu gehen
- Die Funktion der informellen Gespräche in der Kaffeeküche ist der gesuchte Schulterschluss mit den Kollegen, die Verbrüderung. Dabei entstehen mitunter nicht funktionale Feindbilder in beide Richtungen.
- Die zu stark ausgeprägte Schauseite gaukelt nicht vorhandene Professionalität vor. Dies ist nicht ansprechbar, da die Werte und Zwecke auf dieser Seite so hochstilisiert wurden, dass eine Diskussion darüber nicht möglich ist.
An der formellen Seite ändern – die Kultur zieht nach
Da sich die Kultur nicht direkt beeinflussen lässt, so sagt Stefan Kühl, muss die formelle Seite der Organisation strukturell verändert werden. Hier ist wichtig anzumerken, dass Entscheidungen und Steuerungsversuche nicht automatisch strukturgebend werden, sondern erst die Wiederholung über die Zeit zu dauerhaften Veränderungen führen kann. Die Gefahr ist gegeben, dass lediglich an der Schauseite geändert wird. Ist die Maßnahme jedoch wirksam, so kann sich die informelle Seite bzw. die Kultur über die Zeit anpassen. Vorsicht: Dies ist kein Automatismus!
Im obigen Beispiel könnten dies Regelmeetings mit einer offenen Agenda sein. Oder moderierte Feedbackgespräche mit dem Unternehmensgründer. Das Veränderungsprogrogramm könnte Schulungen der Mitarbeiter mit einer Sensibilisierung für die Veränderungsgründe durchführen. Oder die Clique der KnowHow Träger, die sich beim Golfen trifft, könnte in ein formelles, sich regelmäßig tagendes Team umgewandelt werden.
Die Möglichkeiten sind vielfältig, eine pauschale Aussage macht an dieser Stelle natürlich keinen Sinn. Über die Betrachtung dessen, wie die informelle Seite die Misstände auf den anderen Seiten ausgleicht, lassen sich jedoch häufig die besten Erkenntnisse ableiten.
Fazit
Die Beschränkung auf eine rein strukturelle Sicht der drei Seiten der Organisation erscheint im Gebrauch der Methodik als pragmatisch und für viele Fälle ausreichend. Dadurch besticht sie durch eine vordergründige Schlichtheit und Andockfähigkeit und lässt sich mit ihrer praktischen und kundenorientierten Sprache sehr gut einsetzen. Sie erschließt jedoch nicht den Blick durch die Leitprozesse auf die Wechselwirkungen zwischen den Dynamiken, wie Psychodynamik und Teamdynamik, und könnte damit zu stark vereinfachen.
Stefan Kühl konnte allerdings eindrucksvoll zeigen, wie leistungsfähig seine Deutung ist. Wieder einmal ließ sich beobachten, dass der wirkliche Erfolg nicht von der Methodik sondern von der Erfahrung des Beraters abhängt und wie dieser die Methodik nutzt. Wichtig ist das Beraterverständnis, welches diesen nicht illuminiert über die Organisation sondern beobachtend und neutral neben diese stellen sollte.
Eine weitere Erkenntnis ist, dass Stefan Kühls Ansatz sehr gut mit der Metatheorie der Veränderung zusammen passt. Fallweise ist es durchaus sinnvoll, verschiedene Heuristiken zu benutzen. In Fallbesprechungen ist es sogar so, dass sich die verschiedenen Heuristiken ergänzen und in Summe zu den meisten Einsichten führen können. Sie sind Tools im Werkzeugkoffer des Organisationsberaters, der situativ entscheiden kann, durch welche “Brille” er blicken will.
Ich teile jedoch den Ansatz, dass die Informalität nur über die Formalstruktur zu beeinflussen wäre, nicht. Mindestens die Selbstbeobachtung der Organisation und die Intervention auf der Umweltseite kommen als Interventionsfelder hinzu.