Mir hing es früher echt zum Halse raus. Als Berater/Coach will man doch etwas verändern. Hilfreich sein. Stattdessen steckt man immer wieder in politischen Querelen und Zauderei fest, ohne voran zu kommen. Das nagende Gefühl: Da fehlt doch etwas! Mit einer anderen Sichtweise und etwas Handwerkszeug entkomme ich diesem Frust immer häufiger.
Das fehlende i-Tüpfelchen
Vor Kurzem erst, ich komme bester Dinge zu einem neuen Kunden. Startup im Konzernumfeld. Hey, Startup! Etwas verändern können, einen Unterschied machen! Das Produkt in den Fokus setzen und mit einer überschaubaren Anzahl an Menschen gemeinsam genial machen! Lasst uns anfangen! Yay!
Stattdessen sprichwörtlich ein „Hallo, Scrum Master Nummer 27, wir haben eigentlich keine Lust und es ist eh viel schöner, wenn die Bürotür zu ist. So können uns auch unsere Chefs nicht sehen“ vom Team. Die Chefs haben mich ebenfalls eingenordet: Teamschnitt muss besser werden, Zusammenarbeit der Teams funktioniert nicht. Darf aber keine Zeit kosten. Und dann stand plötzlich ein Termin im Raum! Termin! Termin! Termin! Keine Zeit und keine Lust auf Neues.
Uff. Ärgerlich. Festgefahren vom ersten Moment an. Ich wollte doch anpacken, alles besser machen. Ich hätte die schon „gerettet“… aber wenn sie nicht wollen?
So eine Ausgangssituation kennen viele Agile Coaches. Und was passiert ebenso häufig? Der liebe Coach steht jetzt im Rampenlicht, eine Erwartungshaltung wird aufgebaut, man will sein Geld wert sein. Also Methodenkoffer aufmachen, Schlachtplan entwerfen und voller Tatendrang rein. Wird schon gut werden! Der Frust kommt dann am nächsten Tag, weil keiner mitmacht.
Gehen wir mal einen Schritt zurück und schauen uns das an. Noch einen, bitte. So ist’s gut. Was passiert in dieser und ähnlichen Situationen immer wieder gern? Wo ist das fehlende i-Tüpfelchen wirksamer Beratung?
Der Coach, der etwas will, ist selbst ein Teil des Problems
Es fängt schon mal damit an, dass der Coach unbedingt etwas will. Er will retten, umkrempeln, verändern. Hilft das? Augen zu und mit der Tür ins Haus fallen? Widerstand egal? Ok, das ist jetzt eine Suggestivfrage. Natürlich hilft das nicht. Gerade wir Coaches sollen doch kundenorientiert sein. Also darf es gar nicht darum gehen, was wir erreichen oder beweisen wollen! Der Coach, der etwas will, hat eines gewiss: Den Misserfolg vorprogrammiert.
Kultur ist das, was passiert, wenn man nicht hinsieht
Stattdessen erst einmal ankommen. Durchatmen. Die Arme ausschütteln, sich umschauen. Was ist das, das bei etwas Hinschauen zuerst gesehen wird? Ich meine jetzt nicht die Farbe der Wand! Sondern Kultur. Unternehmenskultur. Sind die Türen auf oder zu? Teamplay oder Einzelkämpfer? Was geschieht abseits der Regeln, worüber wird in der Kaffeeküche gesprochen? Nehmt euch Zeit und beobachtet. Und wenn dann die ersten Impulse kommen was man tun könnte… beobachtet weiter, lasst nicht zu früh zum Lösungsmodus verleiten. So bekommt ihr ein Gefühl für die Kultur – also alles, was abseits von geschriebenen Regeln passiert.
Empathie ist nicht nur für Deanna Troy von Star Trek wichtig
Mir hilft es, sich ein paar Fragen zu stellen und mit dem Bauch zuzuhören. Den grauen Zellen mal nicht sofort erlauben, zu werten und den Schlachtplan auszuhecken. Wir sind Menschen und wir können mit etwas Beschreibbarem besser umgehen. Wenn wir dem Ding einen Namen geben können. Deshalb erst einmal nach Bildern und Metaphern suchen, die das Beobachtete beschreiben.
An was erinnert mich das, was ich vorfinde? Ist es das Rudel junger Hunde, die unbekümmert auf der Wiese spielen? Oder doch eher die Galeere mit den rudernden Sklaven? Warum fühle ich mich davon betroffen, worauf reagiert mein Bauch? Jetzt und hier auf dieses Gefühl hören und nachforschen, den Kopf so lange wie möglich raushalten! Empathie ist in!
Von Mustern und Zwangshandlungen
Nach dem ersten, subjektiven Eindruck denke ich darüber nach, was mich zu diesem Bild gebracht hat. Was liegt in der Organisation vor das macht, dass alles so ist, wie es ist? Und wo sind die Kräfte am Werk, die daran arbeiten, dass alles bleibt wie es ist? Über diese Überlegungen gelangt man zu Mustern in der Organisation, die diese immer wieder durchlebt. Selbst, wenn man einige Leute austauscht, bleiben diese Muster konstant und sie werden zur gelebten Organisationskultur.
Bei jedem meiner bisherigen Aufträge fallen mir zwei oder drei Kernmuster auf, deren Wiederholen ich während meines Einsatzes immer wieder beobachten kann. Noch habe ich zu diesem Zeitpunkt niemandem geholfen, aber meine eigene Objektivität und Fähigkeit zur Beobachtung steigt weiter und ich kann mir mit diesem Wissen überlegen, wie ich meinem Umfeld passend den Spiegel vorhalten kann.
Wer wertet, der richtet
An dieser Stelle muss ich unbedingt etwas einschieben, das ich viel zu lange nicht verstanden hatte: Beschreiben, nicht werten!
Warum? Wertungen sind immer sehr subjektiv. Sie ziehen schnell etwas durch den Kakao, färben sich mit dem eigenen Weltbild oder erzeugen Konflikte, weil sie jemanden in die Verteidigung zwingen.
Eine gute Beschreibung dessen, was jeder beobachten kann, ist sachlich, neutral, nachvollziehbar und frei von Schuldzuweisungen. So entsteht die Basis für einen offenen, konstruktiven Umgang mit den Mustern, der im weiteren Verlauf die gemeinschaftliche Frage zulässt: Ist dieses Verhalten für uns als Organisation zielführend?
Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung
Zu diesem Zeitpunkt haben wir als Coaches etwas in der Hand: Wir haben Metaphern für Beobachtungen geschaffen und Organisationsmuster abgeleitet und benannt.
Warum ist das wichtig? Wir haben jetzt ein wertungsfreies Bild dessen, was passiert, wir können darüber reden und damit arbeiten. Zu diesem Zeitpunkt kann der Auftraggeber das Gesehene nicht mehr verdrängen. Es kommt zu Erkenntnissen und automatisch zu einer Beurteilung, ob das beobachtete Verhalten zielführend, also funktional, ist. Und wenn es das nicht ist? Voila! Jetzt wird Vieles verständlich und die Kräfte, die einer Veränderung entgegengewirkt haben, werden sichtbar.
Zum Beispiel: Der Chef, der Agilität befiehlt, mit seinen geforderten Statusberichten aber immer noch dafür sorgt, dass langfristige Planung nötig ist und Agilität nicht greift. Oder der Geschäftsführer, der sich eine neue, strategische Ausrichtung des Unternehmens wünscht, aber eigentlich nicht loslassen kann an dem, was er damals mit seinem Freund in der Garage gegründet hat.
Die Moral: Konstruktive Verunsicherung!
Es gibt immer einen Grund dafür, dass Dinge sind, wie sie sind. Naiv heran zu gehen und mit Kraft versuchen, diese Dinge zu verändern, ruft nur immer eine Gegenreaktion der Kräfte hervor, die möchten, dass alles bleibt wie es ist. Moderne Beratung wird durch eine Erwartungshaltung sehr schnell in die Ecke des schnellen Problemlösers gedrängt, der bitte das Problem als Serviceleistung aus der Welt schaffen soll. Das geht bei Tools. Das geht nicht bei Arbeitsweisen und auch nicht bei kulturellen Veränderungen. Hier muss Veränderung durch eine Einsicht in die Notwendigkeit der Veränderung geschehen. Über die Beobachtung von wiederkehrenden Mustern und passenden Strategien, die diese Muster stören.
Änderung erfordert eine gezielte Destabilisierung durch Einsichten in die eigene Nichtfunktionalität. Gesehenes lässt sich nicht mehr ungesehen machen. Die Organisation wird konstruktiv verunsichert und bekommt die Möglichkeit zur Selbsthilfe, weil niemand das nun bekannte, nicht funktionale Verhalten weiter ausüben will und kann.
Und was willst Du mir damit jetzt sagen?
Das ist gar nicht so wichtig… aber was hat Dich denn angesprochen? Zu welchen Erkenntnissen bist Du gelangt? Lass uns gemeinsam beobachten…
Weiterlesen: Vom Selbstverständnis des Coaches
Veni, vidi, vici – ich kam, sah und siegte. Kein geringerer als Julius Cäsar hat diesen Ausspruch geprägt. Umgemünzt auf uns Agile Coaches: Ankommen und Situation erfassen (also „Beobachten“), dann widerspiegeln (“Sichtbar machen“), und dann erst Änderungen unterstützen („Methodenkoffer“). Und stimmt, leider liegt der Fokus häufig auf dem Methodenkoffer und Aktionismus. Aus meiner T’ai Chi Ch‘uan Praxis kenne ich ganz ähnliche Dinge. Mein Lehrer hat immer gesagt: „Wenn Kraft auf Kraft trifft tut das meistens weh“. Eine Organisation ändern kann auch weh tun, die hat nämlich große Kraft zu beharren (siehe Larmans Law’s). Besser also durch Einsicht die Sehnsucht nach Veränderung wecken.
Danke Fabian!
Mich hat deine wunderbar lebendige Sprache besonders angesprochen, Fabian – insbesondere im ersten Absatz. Das Lesen des gesamten Artikels macht richtig Freude – und ganz besonders die Passage: “Gehen wir mal einen Schritt zurück und schauen uns das an. Noch einen, bitte. So ist gut. Was passiert in dieser und ähnlichen Situationen immer wieder gern?”.
Zum Nachdenken hat mich der Satz gebracht: “…mit Kraft versuchen, diese Dinge zu verändern, ruft nur immer eine Gegenreaktion der Kräfte hervor, die möchten, dass alles bleibt wie es ist”. Genau, das stimmt!
Und besonders gut auf den Punkt gebracht finde ich den Satz: “Änderung erfordert eine gezielte Destabilisierung durch Einsichten in die eigene Nichtfunktionalität.”
Danke dir fürs Teilen deiner Gedanken! Sehr anregend!