Eine neue Folge von Colecast — dem Corporate Learning Podcast!
Unternehmen stehen immer stärker unter Lieferdruck. Enge Termine und immer höhere Komplexität schlagen sich auch auf die Entwicklung durch und führen zu einer hohen Arbeitsbelastung im Alltag. Meist geht es nicht nur um ein Projekt, sondern um mehrere, die möglichst gleichzeitig vorangetrieben werden müssen. In diesem Umfeld stehen nicht nur schnell ganze Projekte auf der Kippe, den Beteiligten fehlt auch der Systemüberblick, um sich gezielt vor Überlastung zu schützen.
Ich gehe gemeinsam mit Hendrik Härter von der Redaktion Elektronik Praxis am Beispiel von Elektronikentwicklern der Frage nach, wo die Ursachen liegen und wie Abhilfe geschaffen werden kann.
Das Interview zum Nachlesen
Elektronikentwickler müssen liefern!
Firmen stehen immer stärker unter Lieferdruck. Enge Termine und immer höhere Komplexität schlagen sich auch auf die Elektronikentwickler durch und führen zu einer hohen Arbeitsbelastung im Alltag. Meist geht es nicht nur um ein Projekt, sondern um mehrere, die möglichst gleichzeitig vorangetrieben werden müssen. In diesem Umfeld stehen nicht nur schnell ganze Projekte auf der Kippe, den Beteiligten fehlt auch der Systemüberblick, um sich gezielt vor Überlastung zu schützen.
In der Eröffnungs-Keynote der Power of Electronics am 17. Oktober wird Fabian Biebl, Organisationsentwickler bei der Colenet GmbH, dieses Spannungsfeld zwischen möglichst viel Arbeit oder Konzentration auf das Wesentliche anschaulich darstellen. Wir haben ihm vorab einige Fragen gestellt.
Fabian, Elektronikentwickler müssen liefern! Was bedeutet das genau?
Liefern bedeutet, für den Kunden einen Wert zu schaffen. Also ein Produkt liefern, eine Dienstleistung erbringen oder den Kunden mit Wissen und Erfahrung weiterbringen. Das ist das primäre Ziel eines Unternehmens und seiner Mitarbeitenden.
Die Arbeitsbelastung in den Entwicklungsabteilungen nimmt zu. Für eine saubere Produktentwicklung bleibt kaum noch Zeit. Wo ist der Zusammenhang zum Liefern?
Die Arbeitsabläufe in den Unternehmen und die Technik werden komplexer und bedürfen viel Aufmerksamkeit. Deshalb gerät die eigentliche Fertigstellung und Lieferung eines Produktes schnell aus dem Blick.
So optimieren sich beispielsweise Abteilungen (Silos) oft selbst, ohne die Fertigstellung des Produktes aus Kundensicht zu betrachten. Während aus Sicht des Vertriebs gleichzeitig noch weitere Projekte begonnen werden sollen, klagen Entwickler über die damit verbundene gleichzeitige Auslastung mit zu vielen Themen. Das Management kann meist nur über den Grad der Auslastung beurteilen, ob die Mitarbeitenden richtig eingesetzt sind.
Das klingt nach viel Stress und Konflikten innerhalb der Entwicklung?
Ja, denn Mitarbeitende und Unternehmen verfolgen aus dem Bauch heraus andere Strategien. Mitarbeitende würden lieber nur eine Sache anfangen und diese komplett fertigstellen. Auf der anderen Seite drücken viele Kundenaufträge gleich mehrere Projekte gleichzeitig in die Entwicklung. Die Frage, ob das Beginnen von etwas Neuem oder das Fertigstellen von etwas Begonnenem im Vordergrund stehen soll, kann mangels Systemübersicht selten intuitiv beantwortet werden.
Keine gemeinsame Lösungsstrategie von Belegschaft und Management?
Die Mitarbeitenden sind frustriert, da sie spüren, dass ein Projekt schneller fertig zu bekommen wäre, wenn sie sich darauf konzentrieren würden. Sie können das aber nicht belegen. Stattdessen laufen aufgrund von Kundendruck doch wieder mehrere Projekte gleichzeitig.
Ich kenne viele Entwickler, die in fünf oder mehr Projekten gleichzeitig stecken. Irgendwann verbringen sie mehr Zeit damit, sich ständig neu einzuarbeiten, als die eigentliche Entwicklung voranzutreiben. Schlimmer noch, im Extremfall werden sie, wenn sie diese Probleme anführen, vom Management als faul abgestempelt.
Warum fällt das den Firmen so schwer?
Meist fehlt der systemische Blick, also die Transparenz über die Arbeitsprozesse. In Zeiten der Komplexität stochern wir im Nebel und mangels Durchblick kommt es zu Entscheidungen aus dem Bauch. Ich helfe Kunden wie beispielsweise Infineon, ihre Lieferfähigkeit zu verbessern, indem ich diese Komplexität beherrschbar mache.
Firmen kämpfen also mit zunehmender Komplexität. Entscheidungen treffen fällt zunehmend schwerer. Wie lässt sich der Interessenkonflikt beseitigen?
Bevor wir groß in Änderungen einsteigen, sollte erst einmal das Bestehende sichtbar und messbar werden. Kanban ist mit seinen Boards ein guter Ansatz. Es benötigt erst einmal keine Änderungen an der Organisation, sondern der Wertschöpfungsprozess und seine Bottlenecks werden sichtbar.
Es bringt zudem viele Kennzahlen mit, über die sich der Gesundheitszustand des Systems messen lässt. Ich mag zum Beispiel die LeadTime. Das ist die Zeit von der Auftragsannahme bis zur Auslieferung an den Kunden.
Könnten so die Interessen des Managements und der Entwicklungsabteilung besser zusammengeführt werden?
Die Frage, wie viele Projekte gleichzeitig laufen sollen, kann mit Kennzahlen wie der LeadTime beantwortet werden. Dies geschieht iterativ über das Setzen von Arbeitslimitierungen (work in progress limits) und Messung der Auswirkung der Änderung auf die Lead Time.
Damit werden die Probleme von zu viel oder zu wenig Projekten gleichzeitig messbar und besprechbar – Management und Mitarbeitende können im Dialog herausfinden, wo die optimale Auslastung liegt. Optimierung wird so von einer Gefühlssache zu einem Werkzeug.
Wie wird das in der Praxis eingeführt?
Ich möchte ein Beispiel geben, wie wir das in einer Schlosserei gelöst haben. Das Beispiel ist viel einfacher als das, was wir in den meisten Unternehmen haben werden, aber selbst dort gibt es schon eine gewisse Komplexität, die wir in mittleren und großen Unternehmen finden.
Das Problem im Handwerk ist, dass sehr viele Aufträge hereinkommen. Der Meister will die Kunden nicht verlieren, deshalb werden möglichst viele Aufträge angenommen, aber dann ertrinkt der Betrieb in Besichtigungen, Aufmaß, Auftragsklärung oder Fertigung.
Dort haben wir zunächst mit Kanban einen Überblick über den Arbeitsfluss geschaffen. Auch dort gab es Silos, nämlich Büro und Werkstatt, die nicht optimal aufeinander abgestimmt waren. Alle waren überlastet, vor allem der Meister, und jeder Mitarbeiter konzentrierte sich nur auf seinen Bereich.
Die Transparenz, die wir durch Kanban erreicht haben, hat den Prozess so sichtbar werden lassen, dass plötzlich alle Beteiligten gute Ideen hatten, wie die Auslastung besser gesteuert und verteilt werden kann. Durch die teilweise Übernahme von Arbeiten, die nicht zu den eigentlichen Aufgaben gehörten, wurden viele Bottlenecks entschärft.
Am wichtigsten war es jedoch, darauf zu achten, dass erst etwas erledigt sein musste, bevor neue Arbeit in das System kam. Durch Wartelisten für Kunden und andere Maßnahmen konnte der Druck, neue Arbeit ins System zu bringen, gebremst werden, so dass mit weniger Arbeit im System mehr Wert für den Kunden geliefert werden konnte.
Wie wirkt sich das auf die Arbeitsbelastung und die Zufriedenheit der Beschäftigten aus?
Die Mitarbeiter sind viel weniger gestresst, weil sie nicht mehr so viele Aufgaben gleichzeitig erledigen müssen. Sie haben jetzt den Überblick über den Prozess und können endlich eigene Ideen einbringen. Sie haben ihre Arbeit wieder selbst in der Hand! Dieses Gefühl ist wirklich nicht zu unterschätzen und hat auch viel mit Wertschätzung und Stolz auf die eigene Arbeit zu tun.
Gleichzeitig liefert die Firma mehr an die Kunden. Produkte werden schneller fertig, was sich beispielsweise in früheren Zahlungen bemerkbar macht. Für alle Kunden ist die Lieferzeit vorhersehbar. Außerdem werden Taskwechselzeiten eingespart. Es wird früher geliefert, als wenn alles parallel laufen würde. Das würde, ohne Transparenz und Messung, unglaubwürdig klingen – aber es ist wirklich so.
Firma und Mitarbeitende bekommen ein gemeinsames Gefühl für sinnvolle, systemische Optimierung und können an einem Strang ziehen. Wenn Du einmal die Kraft einer solchen Organisation gespürt hast, willst Du nie wieder zurück.
Was ist Deine Empfehlung für Elektronikentwickler, um zu liefern?
Meine Empfehlung an Entwickler: Verwenden Sie Zeit auch für die Frage, wie gearbeitet wird. Kanban und andere Hilfsmittel helfen bei der Transparenz.
Bauen Sie einen Regelkreis auf. Machen Sie Ihre Leistungsfähigkeit mit Kanban messbar, führen Sie gezielte Veränderungen durch und verfolgen Sie die Auswirkungen über die Zeit und steuern nach.
Das mit dem Regelkreis klingt schlüssig – warum wird es nicht genauso umgesetzt?
Im eigenen Saft fällt das sehr schwer. Entwickler kennen ihr Geschäft, Veränderung ist etwas Neues. Die Kultur eines Unternehmens ist häufig auch recht widerwillig und schluckt Veränderungsimpulse. Ein externer Begleiter dieser Reise, der auch das Wissen um die systemische Optimierung mitbringt und viele Fragen stellt, ist teilweise hilfreicher als die beste Selbstdiagnose. Viele systemisch richtige Optimierungen sind leider (ohne Transparenz) nicht intuitiv und erfordern Mut.
Den Fokus auf das Liefern zu bekommen ist kein Hexenwerk. Aber es bedeutet Arbeit, die richtige Führung und einen passenden Erfahrungsschatz mit Veränderung, um das Rad nicht neu zu erfinden. Der gesamte Prozess wird Agile Transformation genannt.
Vielen Dank. Wir bleiben an dem Thema dran. Bei Fragen zur Agilen Transformation freut sich Fabian über Kontakte und Ihre Fragen.